Eine Geschichte vom Unterschied zwischen Wunsch und Bedürfnis, von Kampf und Frieden, und der Freude einen tiefen Freundschaft
Meine Freundin Claudia schenkte mir vor ein paar Tagen ihren alten Tabakbeutel. Sie braucht ihn nicht mehr. Seitdem liegt er hier rum. Mal auf dem Gartentisch neben dem Aschenbecher, mal auf dem gemütlichen Sofa, das im Hof steht, mal griffbereit am Eingang oder auf der Anrichte. Ich benutze ihn, er liegt immer da, wo ich ihn gerade gebraucht habe. So sehe ich ihn liegen und immer wenn ich ihn sehe, löst er ein warmes Gefühl in mir aus.
Ich freue mich so über diesen Tabakbeutel. Nicht nur, weil er praktisch ist. Nicht nur, weil er schön ist. Nicht nur, weil er wie gerufen kam, da ich kurz vorher noch dachte, ich würde mir einen nähen wollen. Und nicht nur, liebe Claudia, weil du ihn mir geschenkt hast und weil er von dir ist. Auch deswegen, doch vor allem, weil der Anblick des Tabakbeutels dieses eine Gefühl in mir auslöst.
Es ist eine Rückschau. Der Anblick des Tabakbeutels verbindet mich sofort mit der Zeit, in der ich diesen Tabakbeutel das erste Mal sah. Ich habe keine konkrete Erinnerung an eine bestimmte Situation. Ich könnte noch nicht einmal aus der Erinnerung heraus behaupten, ich hätte den Tabakbeutel schon einmal vorher gesehen. Nur das Gefühl, das er in mir auslöst, lässt mich dessen gewiss sein.
Ausgewandert in die Fremde
Es war die Zeit, als ich gerade nach Bornholm gekommen bin. Ausgewandert mit zwei Kindern, im Ferienhaus sitzend, weil für eine feste Bleibe erst vor Ort gesorgt werden konnte. Allein. Erschöpft von der vielen Vorbereitung, dem Umzug, der langen Fahrt ins Unbekannte, der Aufregung des Neuen, das Alleinsein und langsam Fühler ausstrecken.
Und dann kam Claudia. Wir hatten uns noch nie vorher direkt gesehen, nur in gemeinsamen Onlinemeetings, wo wir uns kennengelernt haben.
In der Zeit kurz vor Bornholm hatten wir täglich endlose Telefonate, in denen wir unsere Auswanderungen geplant hatten. Jede für sich unabhängig voneinander, doch bis auf wenige Wochen zeitgleich. Sie allein mit Kind, ich allein mit meinen beiden, als Vorhut, denn mein damaliger Mann sollte nachkommen, sobald er seine Geschäfte in Deutschland abgewickelt hatte.
Claudia und ich hatten gemeinsam geplant. Wir haben unser Wissen geteilt, die Kosten des Ferienhauses, haben gemeinsam gekocht und nach den Kindern geschaut, waren gemeinsam am Strand und haben uns gegenseitig unterstützt.
Es war eine schlimme Zeit. Nein, das ist kein Tippfehler, es war wirklich schlimm.
Das, was sich alles so positiv anhört, war so geplant, war so gewünscht und hat in fünkchenweise auch genauso geholfen, doch da war auch die andere Seite.
Wunsch und Bedürfnis
Unsere Kinder haben einander nicht verstanden. Sie wollten so gerne miteinander spielen, sie wollten es unbedingt, doch sie hatten so unterschiedliche Ansätze zu spielen, so unterschiedliche Gewohnheiten, Sichtweisen, die überhaupt nicht zueinander passten und auch nicht zueinander fanden. Sie waren fassungslos darüber, wie ein anderes Kind, das sie so gerne mochten und das sie so gerne mit ins Spiel nehmen wollten, so völlig anders sein kann. Die Kinder brauchten massive Unterstützung sowohl beim gemeinsamen Spiel als auch darin, einander zu lassen, Ruhe und Raum zu geben, und trotz Wunsch nach gemeinsamen Spiel, Rückzug zu üben.
Das waren die Kinder. Doch was war mit uns Frauen? Was brauchten wir?
Wir brauchten etwas anderes als wir uns wünschten.
Wir wünschten uns gegenseitiges Verständnis, Arbeitsteilung, gemeinsames Lachen, in den Arm nehmen, Entlastung, Erholung von der anstrengenden Zeit, die hinter uns lag.
Was wir brauchten, war alleine sein. Sich selbst zuhören. Niemandem ausser dem Kind gegenüber verpflichtet sein. Zur Ruhe kommen. Den Schmerz fühlen, die Erleichterung fühlen, die Anstrengung der Vergangenheit abstreifen und auf niemanden zu zählen als auf sich selbst. Wir brauchten Erholung, die wir nur uns selbst geben konnten. Obwohl es doch so viel schöner gewesen wäre, sich gegenseitig zu unterstützen und sich gegenseitig einen Raum der Erholung zu schaffen, war es nicht das, was wir brauchten.
Deswegen knallte es.
Die Kinder haben uns so präzise gespiegelt, dass Wunsch und Bedürfnis in dieser Zeit nicht hätten weiter auseinander liegen können, doch unser Bewusstsein war dafür noch nicht gewachsen.
Trauma- und Stressreaktion
Wir beide waren erschöpft und wir befanden uns im allgemeinen Stresszustand nach teils traumatischen Erlebnissen, die wir zurückgelassen hatten. Der allgemeine Stresszustand besteht im Wesentlichen aus Flucht oder Kampfreaktionen. Das ganze System ist auf Notzustand eingestellt, alle Reaktionen und Handlungen sind auf Geschwindigkeit und Effizienz ausgerichtet. Da bleibt für Durchatmen und bedachte Handlungen keine Zeit und deswegen räumt das System keine Kapazitäten dafür ein.
Der Körper ist angespannt, die Nerven hochsensibel oder, wie man früher gesagt hätte, strapaziert.
Doch nicht nur die Gefühlslage ist davon geprägt. Es ist auch das Bewusstsein, das auf Gefahrenerkennung ausgerichtet ist. In allem wird eine potentielle Gefahr angenommen und entsprechend durch diese Brille gesehen. Diese Bewusstseinseinstellung, gekoppelt mit der Grundeinstellung des Lebenserhaltungstriebes, lässt kein Verständnis und kein Aufeinander-Zugehen zu. Es geht nur um die eigene Sicherung, es wird abgewogen zwischen Flucht, Kampf, Verteidigung.
Das ist der Hintergrund, vor dem du dir die Gespräche und Klärungsversuche von Claudia und mir vorstellen darfst.
Drama pur und noch nicht mal hollywoodreif, weil es weder Tote noch rettende Ritter gab.
Nehmen wir es mit Humor.
Das warme Gefühl
Dieser Zeit also, wo Wunsch und Bedürfnis nicht weiter auseinander liegen konnten, wo Stressreaktionen keine Klärung zuließ und alles so ungeheuer anstrengend und heimatlos erschien, dieser Zeit also fühle ich mich verbunden, wenn ich auf diesen Tabakbeutel schaue, den Claudia zu dieser Zeit nämlich selbst benutzt hat und den ich damals mal hier mal da mal in ihren Händen hab herumliegen sehen.
Wieso zum Geier löst der Anblick des Tabakbeutels ein so warmes, liebevolles und zu Tränen rührendes Gefühl in mir aus?
Die Konflikte und Differenzen, die Claudia und ich hatten, könnten vermuten lassen, dass wir weit auseinander lagen.
Die Sressreaktionen könnten vermuten lassen, dass wir nicht wir selbst waren und uns von unserem eigenen Kern entfernt hatten.
Das ist ein bisschen richtig, jedoch sehr unvollständig.
Wir waren uns selbst und einander so nahe und bei aller Verkennung dennoch so wahrhaftig wir selbst. Mit uns selbst und miteinander hat uns der Mut verbunden, für uns einzustehen, neue Wege zu gehen, das Unbekannte zu begrüßen, auch wenn es ungewiss war. Wir haben uns von niemandem beirren lassen, von niemandem aufhalten oder zu etwas zwingen lassen. Wir sind unabhängig voneinander aufgestanden und für uns losgegangen. Wir haben Strapazen auf uns genommen, weil wir beide wußten, welches der nächste Schritt zu uns selbst und zu einem uns gemäßen Leben ist.
Auch wenn wir ins Ungewisse gingen und nicht ahnten, was auf uns zu kam, haben wir uns selbst ermächtigt und zielsicher unsere Zukunft gestaltet.
Diese Magie des Mutes zu sich selbst, strahlt durch alle Stress- und Traumareaktionen durch und erfüllt mich mit diesem warmen Gefühl.
Während ich zurückblicke, fühle ich mich wie die Sonne der Teletubbies, die auf die damalige Claudia und mein damaliges Ich scheint, uns beide in den Arm nimmt, auf die Stirn küßt und sagt, alles ist gut, du bist wunderbar.
Freundschaft aus der Asche des Phönix
Claudias und meine Freundschaft begann also mit hohe Erwartungen, falschen Voraussetzungen, Fehlinterpretationen, einer Explosion und nachdem der Ärger verraucht war, einem Haufen Asche.
Das Feuer transformiert.
Die Asche mag grau und fad erscheinen, doch ist sie fruchtbar.
Wir hatten lange kaum miteinander zu tun, sondern widmeten uns ganz nach dem Ruf unseres Inneren der eigenen Traumaheilung und freudevollen Lebensgestaltung.
Aus der Entfernung halfen wir uns gegenseitig, mal hier, mal da mit der Verknüpfung von hilfreichen Kontakten und Informationsaustausch.
Bis wir uns wieder mehr und mehr annäherten und neu kennenlernten.
Claudia ist meine nächste Freundin.
Wir teilen.
Wir teilen Glück, wir teilen Zeit, wir teilen Tränen, wir biegen uns und schreien vor Lachen, wir teilen Nähe, Gedanken, Austausch, Verständnis, Ehrlichkeit, Geheimnisse, Sorgen, Liebe.
Wie schön, wenn das Schlimmste hinter uns liegt.
Was alles möglich ist, wenn wir in Frieden kommen, dadurch, dass wir heilen.
Friede heißt, es darf gewesen sein.
Dass Claudia und ich so in Frieden gekommen sind mit uns selbst und miteinander, dass diese so tiefe, friedvolle und dynamische Freundschaft daraus entstanden ist, dafür bin ich so unendlich dankbar.
Das ist das warme Gefühl, das in mir ausgelöst wird, wenn ich diesen Claudias Tabakbeutel hier bei mir herumliegen sehe.
Danke Tabakbeutel, dass du mich erinnerst.
Danke liebste Claudia, für dich, dein Dasein, dein Lachen, deine Wut, dein gesamtes Wesen und noch fucking viel mehr. Danke für unsere gemeinsame schlimme Zeit und danke fur unsere gemeinsame schöne Zeit. Ich danke dir für unsere wertvolle und bewertungsfreie Zeit. Und danke, liebste Claudia, für deine wunderbare Freundschaft!
Ich liebe dich und ich werde mit dir noch einige Tage und Nächte durchtanzen, dass du das mal weißt!